Über die Notwendigkeit ein Buch noch zu Ende zu lesen

Ich sitze am Frühstückstisch und dann kommt da ein zerknittertes „Etwas“ rein und verkündet:
„Ich bin nicht ansprechbar, bis ich eine Tasse Kaffee getrunken habe. Ich musste gestern noch das Buch zu Ende lesen.“
Da rotierte mein Gehirn, so das dort ein Gedankensturm entstand. Wer kennt es nicht, das man zwanghaft noch eine Seite und noch eine Seite lesen muss? Und ehe man sich versieht hat man das Buch durchgelesen und für den nächsten Tag bekommt man viel zu wenig Schlaf ab.
Als Kind hat der damalige Pfaffe uns im Religionsunterricht eine Geschichte erzählt von einem Jungen, der nicht in die Kirche gehen wollte. Der Junge hörte dann die Glocken, die Ihn riefen. Jeder schlag der Glocken rief „KOMM“ „KOMM“ „KOMM“. Er versuchte davor wegzulaufen, aber die Glocken riefen immer lauter „KOMM“ „KOMM“ „KOMM“. An diesen Psychoterror des Pfaffen muss ich noch heute denken, wenn ich Kirchenglocken höre.
Aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ebenso, wie in dieser Geschichte die Glocken „KOMM“ riefen, flüstern die Buchstaben in den Büchern immer „LIES“ „LIES“ „LIES“.
Das bedeutet, es ist eigentlich nicht unsere eigene Entscheidung, ein Buch unbedingt noch zu Ende zu lesen. Wieso auch. Wir sind doch viel zu vernünftig, als das wir uns einen ganzen Tag durch zu wenig Schlaf versauen wollen.
Nun, früher gab es viel mehr Freiraum für die Buchstaben. Nur eine begrenzte Anzahl von Menschen wusste überhaupt etwas mit Buchstaben anzufangen. So ergingen sich die Buchstaben zum Teil in einer gewisse Dekadenz und ließen sich von sogenannten Kopierern in Klostern in ein Meer von Verzierungen betten. So hatte solch ein Buchstabe manchmal Jahrhunderte Zeit, bis er mal wieder gelesen wurde oder für ein Text gebraucht wurde.
Wie sieht es jetzt aus?
Bücher sind Massenware, Zeitungen haben eine Halbwertszeit von einem Tag, mit Glück ein paar Tage länger. Magazine von einer Woche bis zu einem Monat, evtl. wird dann noch mal später was nachgeschaut; i-Pod, Internet, SMS usw. Zum Teil mit einer Halbwertszeit von Minuten. Der Bedarf an Buchstaben ist enorm gestiegen. Das allein ist eigentlich kein Problem. Es wären genug Buchstaben da, um allen Menschen das gemütliche Lesen zu ermöglichen. Aber mit der Vielfältigkeit der Medien, die Buchstaben benötigen ist das Kontingent der Buchstaben an seine Grenzen gestoßen. Besonders der temporäre Bedarf ist zu einem Problem geworden.
Als die Zeitungen aufkamen mussten die Buchstaben plötzlich mehr tun. Wie war das davor, sozusagen vor der Erfindung des Buchdrucks? Bücher und Schriften waren eigentlich etwas sehr langfristiges. Neuigkeiten und Nachrichten haben Herolde mündlich verkündet und Bänkelsänger oder Gaukler/Narren haben Gesellschaftliches und Kommentare in Strophen und Geschichten gebettet und so in die Welt getragen. Dann kam der Buchdruck. Mitteilungen und Nachrichten wurden nun in Aushängen verbreitet. Immer mehr Schichten der Bevölkerung lernte das Lesen. Bald kamen die ersten Zeitungen. Man kann sagen, das mit der Erfindung des Buchdrucks die Buchstaben den ersten Strukturwandel vom Lebensjob in einem Buch zum Tagelöhner und Saisonarbeiter auf Reisen wurde. Immer mehr Buchstaben wurden nur für kurze Zeit benötigt. Ein Aushang oder Zeitung war nach wenigen Tagen nur noch Abfall und nicht mehr von Interesse. Aber es war auch die Zeit der Klassenunterschiede. Während die Buchstaben der Handkopierer sich noch gemütlich und sicher in den alten Bibliotheken der Kloster fühlten, sind die noch nicht benutzten Buchstaben in die neue Welt der Hektik und Kurzlebigkeit geworfen worden. Ähnlich wie es Menschen in Traditionsgegenden gegangen ist. War es früher z.B. im Ruhrgebiet klar Vater war Bergmann, Großvater war Bergmann und der Sohn wird auch Bergmann, zeugen heute nur noch die alten Fördertürme von der einstigen Beständigkeit. Aber selbst dieses Leben war für die Buchstaben noch recht beschaulich. Wurden sie in einer Zeitung nicht mehr gebraucht, dann stellten sie sich wieder hinten an, im großen Pulk der freien Buchstaben. Selbst mit moderner Drucktechnik und immer mehr Zeitungen änderte sich nur ein wenig der Nutzungsintervall der Buchstaben. Höchstens mal, das murren des einen oder anderen Buchstaben, weil er sich z.B. zu gut für die sogenannte Yellowpress hielt, die mit der Verbreitung von Zeitungen und der Lesefähigkeit der Bevölkerung in den Häusern und Friseurläden Einzug hielt.
Dann aber ein weiterer Quantensprung für die Buchstaben, die elektrischen Medien. Angefangen mit dem frühen BTX, die elektronische Variante der Textübermittlung, über Teletext im Fernsehen bis zum Internet. Das Ganze seit jüngster Zeit mit i-Pod und e-Book in eine weitere neue Dimension geworfen.
Aber es ist nicht die Zahl der Geräte oder Texte, die das Problem mit sich bringen. Nein es ist die Hektik des Zugriffes, entstanden durch diese neuen Dimension der Textnutzung.
Wie war es noch früher?
Morgens wurde die Zeitung gelesen, ganz genaue nahmen diese dann noch mit ins Büro, um sich mit den tagesaktuellen Informationen (Börse, etc.) zu rüsten. Tags dann Fachlektüre und Korrespondenzen die gelesen werden musste oder selbst verfasst wurde. Abends dann noch ein Buch oder schnell was geschrieben. Alles in allem für so einen Buchstaben noch recht beschaulich.
Welche Anforderungen sind die Buchstaben heute so ausgesetzt?
Neben den Printmedien, sind da vor allem die elektronischen Medien, die immer mehr Einzug in das Leben der Menschen hält. Dadurch haben sich aber auch die Gewohnheiten der Menschen geändert. Wir sind ein Volk der Speicherer geworden. Schon mit der Möglichkeit die Musik digital auf eine Festplatte zu bannen sind auf vielen PCs inzwischen Musiksammlungen entstanden, die allein vom Zeitaufwand, all diese Musik zu hören in keinster weise im Verhältnis zur Zeit des Nutzers stehen. Hört man irgendwo ein Lied, das einem gefällt, so ist es nur oft ein Klick, das gesamte Album auf die eigene Festplatte zu bannen. Neuerdings geschieht selbiges mit Texten. Sieht man was interessantes im sogenannten WeltWeitenWeb, so speichert man es sich ab. „Man könnte es ja mal gebrauchen“ oder „Das lese ich mir dann in Ruhe noch mal durch“. Erinnert man sich noch, wie mühselig es in den 70ern und auch noch 80ern war einen Text zu vervielfältigen? Ich sage nur Spiritusmatritze. Und Heute? „Ach, das ist interessant, das hast Du doch bestimmt auf dem Rechner. Kannste mir das mal eben auf den Stick ziehen?“
Was ist die Folge? Massig von Texten, die bereit liegen und Buchstaben, die unter der Spannung leben vielleicht schon in der nächsten Sekunde gebraucht zu werden. Wurde früher eine Zeitung gedruckt und irgendwann hat man das Papier zum Ofen anzünden verwendet, so wird heute alles Archiviert. Zeitungsausschnitte werden ins Netz gestellt, alte Ausgaben und Artikel werden in Online-Archiven gesammelt und jeder kann (je nach Verlag) diese kostenlos oder gegen einen kl. Obolus sich ansehen und auf seine Festplatte speichern. Überall lauern Dateien und Festplatten wo jeder Zeit ein Text aufgerufen werden kann. Vorbei sind die Zeiten, wo sich die Buchstaben nicht mehr um den Text in einer Zeitung scheren musste, weil diese verbrannt oder in den Abfall gelandet ist. Ständig die Anspannung, irgendwo zum Teil nur für Sekunden gebraucht zu werden (Man denke da z.B. an die kurzen Mitteilungen, wie „Sie werden nun auf die angeforderte Seite weitergeleitet“). Die Zeiten, das ein Buchstabe sich Jahrhunderte lang in einem gemütlichen Buch herumtreiben kann sind vorbei. Nichts mehr von der Beschaulichkeit, nichts mehr von der Ruhe. Gerade erst gelesen schon auf den Sprung zum nächsten Text. Welch ein Aufatmen der Buchstaben, wenn ein Kind unter dem Weihnachtsbaum sagt: „Oh, ein Buch. Schön Danke.“ und es dann etwas zu desinteressiert weglegt.
Aber immer noch gibt es die Menschen, die sich hinsetzen und ein Buch lesen. Eine wahre Stresssituation für die Buchstaben. Die bange Frage, wird man gerade nicht wo anders ganz dringend gebraucht? Kann ich es mir in der heutigen Zeit als Buchstabe eigentlich überhaupt noch leisten, nur für ein Buch zu arbeiten? Nein, sie können es nicht. Dazu ist der Bedarf an Buchstaben viel zu sehr gestiegen. So sitzen die Buchstaben auf heißen Kohlen und was sie gar nicht gebrauchen können, ist Eine/Einer die/der meint: „Och, den Rest lese ich dann Morgen“.
Und hier machen sich die Buchstaben das Unterbewusstsein zu nutze. Tantramäßig wird dieses Bearbeitet. Ständig bekommt das Unterbewusstsein schutzlos den Befehl „LIES“ eingehämmert. Eben so lange, bis man dann am nächsten Morgen als zerknittertes „Etwas“ in die Küche kommt und alle verwarnt, das man ja nicht angesprochen wird vor dem ersten Kaffee, weil man gestern Abend ja noch das Buch zu Ende lesen musste.

Den verehrten Leser und mitfühlenden Menschen möchte ich bitten, diesen Text nicht auf die Festplatte zu speichern und den Artikel nach dem Lesen nicht wieder aufzurufen. Gönnen wir den leidgeprüften Buchstaben ein Problem weniger.

Den verehrten Leser, der unverständlich den Kopf schüttelt, sei gesagt, das es manchmal halt etwas Ausartet, wenn ein zerknittertes „Etwas“ herein kommt und verkündet, das er am Abend das Buch noch zu Ende lesen musste. Und man selbst darauf nur spontan bemerkt, das dies ja auch wichtig sei, weil die Buchstaben ja heute wieder woanders gebraucht werden. Ja, genau mit dieser Situation hat das Übel hier seinen Verlauf genommen.

Zu guter Letzt, weil gerade passend noch diesen kleinen innovativen Film:

Der Text hat übrigens inklusive Überschrift 9396 Zeichen aus denen 1501 Wörter geformt wurden und mit Satzzeichen in eine lesbare Form gebracht wurden.

Nachtrag:
Gestern haben wir Scrabble gespielt und was musste ich bemerken? Auf zwei von den Buchstaben-Plättchen stand nichts drauf, ganz leer. So weit ist der Engpass schon gekommen!

(Damit erhöht sich gerade die Zeichenanzahl auf 9672 und insgesamt 1541 Wörtern)

Artikel als eBook zum Download:
Über die Notwendigkeit ein Buch noch zu Ende zu lesen

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