Nur ein Stück Haut? Meinungsmache und die Befreiung von Fesseln

Ich habe es nicht anders erwartet. Allenthalben versuchen diejenigen, die Ihre Macht schwinden sehen Ihren Einfluss gelten zu machen, um gegen das Urteil zu wettern.
Seltsam nur, dass es noch keine Gegenmaßnahmen gibt.
Die (angeblich*) Betroffenen verweisen immer wieder auf Studien und Empfehlungen, die mit dem Urteil gar nichts zu tun haben. Auf den Foren geht es hoch her. Bei Befürwortern werden kritische Stimmen gnadenlos und brutal nieder gemacht, ebenso anders herum.
Wie die ganzen Gründe für die Beschneidung mit großer Vorsicht zu genießen sind, muss man auch die ganzen Studien und Behauptungen der Beschneidungsgegner mit ebensolcher Vorsicht genießen.

Was bleibt ist die „Güterabwägung“. In diesem Fall die Abwägung zwischen dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und den Bräuchen der Religionsgemeinschaften. Ich schreibe extra nicht dem Grundrecht auf „Religionsfreiheit“, weil dies, wie ich schon in den vorherigen Artikeln geschrieben habe in allen Grundsatzpapieren, die für Deutschland relevant sind (Grundgesetz, Eu-Charta der Grundrechte, UN-Menschenrechtskonventionen und die UN-Kinderrechtskonvention) handelt es sich um Individualrechte und nicht um Gemeinschaftsrechte.
So hatte das Gericht eben zu Entscheiden, ob das Kindeswohl mit dem Recht auf Unversehrtheit höher zu bewerten sei, als das Vertretungsrecht der Eltern für das Kind die Entscheidung zu treffen, das es beschnitten wird.
Dies hat rein vom Juristischen in meinen Augen erst mal nichts mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit zu tun, da dieses Recht in dem Fall ein Individualrecht des Kindes und nicht der Eltern für das Kind ist.
Das dies aber sehr wohl etwas mit der Religionsausübung der Religionsgemeinschaften zu tun hat, kann man nicht ignorieren. Und hier haben die Richter, dieses Recht, das eben nicht durch das Grundgesetz oder andere Grundsatzrechte geschützt ist. in den Ausführungen heißt es in dem Urteil:

Der Veranlassung der Beschneidung durch die Eltern soll auch keine rechtfertigende Wirkung zukommen, da dem Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung kein Vorrang zukomme, so dass mit der Einwilligung in die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl festzustellen sei.
[…]
Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unangemessen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider. Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.

(Quelle: Urteil vom LG Köln AZ „151 Ns 169/11“)

Die Richter haben richtiger Weise zwischen den Grundrechten der Eltern und des Kindes abgewogen und ebenso richtiger Weise die Freiheit des Kindes auf Unversehrtheit und dem Individualrecht auf Religionsfreiheit gegen das Elternrecht abgewogen. Sie haben auch nicht festgestellt, dass Ihre Entscheidung eine Schwarz-Weiß-Entscheidung ist, also das die Eltern und auch Religionsgemeinschaften dadurch nicht eingeschränkt sind. Die Richter haben festgestellt, dass die Unversehrtheit des Kindes wichtiger ist als die „nicht unzumutbare Beeinträchtigung“. Das dies evtl. von subjektiven Standpunkten aus anders gesehen werden kann, hat und darf die Richter nicht interessieren.

Und was hat nicht alles Sturm gelaufen gegen dieses Urteil und auch Leuten die dieses Urteil befürworten. So wurde von einem Vorsitzenden einer „liberalen“ Jüdischen Gemeinde meine „Quellen“ als dubios in einem Kommentar bezeichnet (ich berichtete: Beschneidungsartikel – Offener Brief in eigener Sache). Das wo ich vor allem aus den Schriften der gemeinsamen Vergangenheit der Christen und Juden zitiert hatte (Tora/Altes Testament).

Nun, ich fand dies amüsant, vor allem, da von Seiten des Vorsitzenden der Gemeinde bis Heute keine Reaktion gekommen ist.

Ein gutes hat diese Aufregung aber bewirkt. Die Kritischen Kräfte in den eigenen Reihen melden sich zu Wort. Nein, nicht in Deutschland, sondern in Amerika wo die „Reformjuden“ schon im 19ten Jahrhundert gegen die Beschneidung ausgesprochen hatten. In Deutschland ist mit dem Holocaust die einzig bekannte „Reformgemeinde“ in Berlin ausgemerzt worden. Nach dem Krieg bildeten sich dann in Deutschland vor allem die „liberalen“ Juden (als alternative zu den orthodoxen Gemeinden), die sich an bestimmte Vorgaben durch den Zentralrat der Juden hielten, um nicht von den Töpfen der Zuschüsse abgeschnitten zu werden (Ich weiß, das hört sich zynisch an, aber ich empfehle mal sich die Nachkriegsgeschichte um die Anerkennung der „liberalen Juden“ anzusehen).
in Amerika, wo die Strömungen sich freier entwickeln konnten hatten sich nun Betroffene vor der deutschen Botschaft getroffen um für die Kölner Entscheidung zu demonstrieren.
Aber nicht nur dies sind die ersten Anzeichen, dass sich die Diskussion von den religiösen Fanatikern aller Couleur, wie auch von den Religionspatriarchen mit Ihrer Angst um Machtverlust löst.
immer mehr Betroffene trauen sich über Ihre eigenen Erfahrungen der Beschneidung zu berichten. Neben den positiven Erfahrungen tauchen nun so langsam die ersten Betroffenen auf, die über Ihre Probleme nach einer Beschneidung berichten. Von Schmerzen, Verstörtheit und auch psychischen Problemen.
Ich sehe hier eine Entwicklung, die man schon bei anderen religiösen Misshandlungen gesehen hat. Zuletzt als es um die Missbrauchsfälle in den christlichen Kirchen (ehrlicherweise muss man sagen nicht nur dort), die zuerst als Weltweite Einzelfälle hingestellt wurden, inzwischen aber ein Weltweit flächendeckendes Massenproblem geworden ist.
Haben die Religionsgemeinschaften nun versucht solch einen Religionsinternen Flächenbrand bei den Beschneidungen zu verhindern? Die heftigen und kompromisslosen Reaktionen lassen dies vermuten. Da die Feststellung, das die Individualrechte der Kinder höher zu bewerten sind auch für die christlichen Kirchen (Stichwort: Säuglingstaufe) gefährlich wird, wie auch eine mögliche Tendenz einen einseitige Religionsunterricht im Sinne der individuellen „Religionsfreiheit“ abzuschaffen dürften hier bei der Empörung mitgeschwungen haben. Schon jetzt geschlagen von immer mehr Kirchenaustritten, sehen sie nicht ihre christlichen Werte davon schwimmen, sondern vor allem Gelder. Die Zwangsmitgliedschaft durch Geburt, also sozusagen das „Opt-Out“-Verfahren wird dadurch gefährdet.
Wie „christlich“ da z.B. die evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg handelte kann man z.B. hier nachlesen:

Sie glaubte, das Thema Kirchensteuer läge seit ihrem Kirchenaustritt hinter ihr. Doch kurz nach ihrem Umzug in die Hauptstadt bekam Susanne Englmayer plötzlich Post vom Finanzamt Berlin. Ihre Kirchenzugehörigkeit könne nicht hinreichend geklärt werden, schrieb das Finanzamt und bat um Mithilfe. Doch Englmayers Hinweise auf ihren Kirchenaustritt in den 80er-Jahren und die seit Jahrzehnten nicht beanstandete Eintragung auf ihrer Lohnsteuerkarte – zwei Striche in der Spalte Kirchensteuerabzug – zählten nicht. Die amtliche Kirchenaustrittsbescheinigung, ein unscheinbarer Zettel, den sie damals zum Finanzamt getragen und anschließend vernichtet hatte, musste wieder her.

(Quelle: FTD – Ein Kirchenaustritt spart nicht immer Kirchensteuer)

Dabei ist es für die evangelische Kirche scheinbar uninteressant, warum jemand aus der Kirche ausgetreten ist. Kann er dies nicht bescheinigen, dann ist er dran. Ich war Messdiener in der römisch katholischen Kirche und hatte es miterlebt, was „gelebtes Christentum“ für die Kirchenvertreter bedeutete. Der damalige Pfarrer hat noch in meiner Kindheit versucht, die Gläubigen bei Wahlen (zu Gunsten der CDU) zu beeinflussen und als ich Messdiener war, hat er nicht nur einmal in den Spendentopf gegriffen. Gut ich hatte Glück, der Pfaffe war „nur“ Alkoholiker und nicht Kinderschänder. Ausgetreten bin ich nicht wegen der Kirchensteuer, sondern als Meissner in Köln von Oben herab auf den Kardinalsthron gesetzt wurde. Also weder wegen Kirchensteuer oder dem profanen Geld. Aber nun bin ich angeblich so ein Atheist, Heide und was weiß ich.

Die Aufregung um die Beschneidung geht meines Erachtens nicht um die Sache an sich, sondern um die Macht über seine „Gruppe“. Sonst ist es doch seltsam, dass beim Konvertieren zum Judentum (um das mal als Beispiel zu nehmen) ein bereits Beschnittener (egal ob aus religiösen oder medizinischen Gründen) sich nochmals einer „symbolischen“ Beschneidung unterziehen muss. Wobei Beschnitten hier im Text immer für die komplette Entfernung der Vorhaut steht.

Die muslimischen Gläubigen erzählen, dass sich Abraham mit einer Axt beschnitten habe. Dies widerspricht dann aber meiner anatomischen Kenntnis, das dabei die komplette Vorhaut entfernt würde. Bei meiner Nicht beschnittenen Vorhaut dürfte dies allerhöchstens das Vorhautende sein. So sehe ich hier doch eher meine Vermutung bestätigt, die ich in meinem Artikel über die „Beschneidung“ geschrieben habe. Da laut Tora/Torah im „Genesis 17, 9 – 14“ (Entsprechend in der Bibel bei „Moses, Buch 1“) zwischen beschnittenen und unbeschnittenen „vorhäutigen Männern“ unterschieden wird („Ein vorhautiger Mann aber, der am Fleisch seiner Vorhaut sich nicht beschneiden läßt…“).
Letztendlich glaube (eigentlich zu dem Thema unpassende Bezeichnung) ich, das es einfach eine Interpretationsfrage und der Wille ist, auf die Überzeugungskraft der eigenen Religion zu vertrauen.
Aber davon scheinen diese alle ohne Ausnahme noch weit entfernt zu sein. Um so mehr ist es unsere Aufgabe Menschen, die sich nicht selbst wehren können zu schützen.
Auch wenn es später eine Minderheit oder wie es die Machthaber aller Couleur (weltlich oder religiös) immer so gerne sagen „Einzelfälle“ sind, die dankbar sind das Sie vor einem Eingriff geschützt wurden, ist dies berechtigt.
Das nennt sich „Minderheitenschutz“ und ist indirekt oder direkt durch das Grundgesetz und andere Grundrechtsabkommen geschützt.

Mit Spannung sehe ich die kommenden Diskussionen entgegen. Leider habe ich keine Hoffnung, dass die Religionsfuktionäre eine freie Diskussion zulassen werden. Erst recht nicht in den eigenen Reihen.

Links:

– Focus: New York: „Ich liebe meine Vorhaut“: US-Demonstranten finden Beschneidungs-Urteil gut
– News.at: Kundgebung für Deutschland | „Ich liebe meine Vorhaut“
– Finacial Times Deutschland: Ein Kirchenaustritt spart nicht immer Kirchensteuer
– Frankfurter Allgemeine Zeitung: Fiskus verlangt Bescheinigungen | Kirchenaustritt kann teuer werden

– Gehirnsturm: Ein Urteil des Kölner Landgericht und eine Horde aufgeregter Religionsfunktionäre
– Gehirnsturm: Nur ein Stück Haut? Oder wie tendenzielle Meinung gemacht wird!
– Gehirnsturm: Beschneidungsartikel – Offener Brief in eigener Sache

* Ich habe das „angeblich“ dazu gefügt, da meiner Meinung nach von der Beschneidung „nur“ und „ausschließlich“ die Kinder als Opfer betroffen sind und nicht die „Täter“ und „Erfüllungsgehilfen“ (die sich auch als „Betroffene“ bezeichnen).

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