Liebe Leser,
in meinem ersten Artikel über das Urteil des LG Köln zur Beschneidung von Kindern gab es einen sehr kurzen Kommentar.
wolfgang sagt:
5. Juli 2012 um 12:07Ein dümmlicher und recht wirrer Artikel mit sehr dubiosen Quellen.
(Quelle: gehirnsturm.info – Ein Urteil des Kölner Landgericht und eine Horde aufgeregter Religionsfunktionäre [Kommentar])
So weit erst mal nichts, was meine Aufmerksamkeit erweckt hat, wenn nicht die (zu dem Zeitpunkt) angebliche Herkunft des Kommentars. So habe ich mich umgehend rückversichert, ob der Absender wirklich diesen Kommentar geschrieben hat, da man schließlich jeden beliebige Mailadresse in das entsprechende Fenster eintragen kann. Die Bestätigung erfolgte dann, so das ich den nun für alle lesbaren Kommentar frei geschaltet habe.
Gerade aber dieser recht kurze und (Achtung: „in meinen Augen“) global verurteilende Kommentar hat mich dann doch dazu bewegt, diesen kleinen Kommentar nicht unkommentiert zu lassen.
Da ich der Meinung bin, dass man bei diesem Kommentar wissen muss, auf welcher Grundlage (Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde) dieser Kommentar fußt, antworte ich dem Kommentator in einem „Offenen Brief“ in eigener Sache.
Da der Kommentator sich in dem Kommentar aber nicht als Person zu Erkennen gibt, werde ich im Text alle Stellen, die zur Person (Name, Ort, Gemeinde) führen könnten editieren. Ich nenne den Kommentator hier nach seiner Angabe im Kommentar einfach nur „wolfgang“.
Nun der Offene Brief:
An
„wolfgang“
Vorsitzender der
„XXXXXXXXXXXXXXX“Per Mail
Offener Brief
Sehr geehrter Herr „wolfgang“,
zuerst einmal bedanke ich mich dafür das Sie bestätigt haben, der Autor des Kommentars
„Ein dümmlicher und recht wirrer Artikel mit sehr dubiosen Quellen.“
zu sein.
Sie haben in dem Kommentar leider versäumt den Lesern mitzuteilen, dass Sie selbst, wie ich es bezeichne ein „Religionsfunktionär“ sind.
Zudem haben sie den Kommentar von einer Mailadresse versendet die eindeutig Ihrer Funktionär-Stellung zugeordnet ist.
Ob Sie nun zu der von mir angesprochenen „Horde aufgeregter Religionsfunktionäre“ gehören, vermag ich nicht zu beurteilen. Wohl sollte der Leser Ihre Funktionärsstellung wissen, um Ihre Kommentar-Aussage für sich persönlich einschätzen zu können.Als Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde muss man wohl Ihren Kommentar etwas anders bewerten.
Den ersten Teil Ihrer Bewertung, das der Artikel „dümmlich und recht wirr“ sei kann ich voll und ganz akzeptieren. Sie werden aber verstehen, dass ich dieses Urteil nicht teile.
Der zweite Teil Ihres Kommentars versetzte mich dann doch in Erstaunen:„ mit sehr dubiosen Quellen“
Ich muss sagen, das ich solch eine kritische Selbstbetrachtung auch bei einem Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde, die sich selbst als „liberal“ einstuft und Mitglied in der Dachorganisation „Union progressiver Juden in Deutschland e.V“ sind nicht erwartet habe.
Ich habe mir auf Grund dieser Kritik nochmals alle meine „Quellen“, die ich für den Artikel herangezogen habe angeschaut.
In der Reihenfolge der Verwendung waren dies:
- Der Zentralrat der Juden (2x)
- Die Tora/Torah (Genesis/Übersetzung)
- Die Bibel – Altes Testament (4x Moses/Luther-Übersetzung)
- Eine Referatsniederschrift, ursprünglich gehalten von Cédric Poyet auf der Seite „Enfal.de“ (eine türkisch-/deutschsprachige Seite über das muslimische Leben, so die Selbstvorstellung) (2x)
- Evangelium nach Thomas
- Focus Online
- WHO (Weltgesundheitsorganisation)
- Stern Online
- Charta der Grundrechte der europäischen Union (2x)
- UN-Menschenrechtskonvention (2x)
Nun, ich persönlich würde zwar den Focus und den Stern nicht unbedingt als die vertrauensvolle Quelle bezeichnen, aber im Zusammenhang der angeblichen ästhetischen Umfrage von beschnittenen Penissen in der USA und der Befragungsgruppe (beim Focus) und dem Zitat des Direktors der WHO-Abteilung für HIV/Aids (beim Stern) dürfte es sich ja um nachprüfbare Aussagen handeln, die nicht unbedingt auf Grund der Quellen angezweifelt werden müssen.
Die Bewertung der Quellen „Zentralrat der Juden“ und der „Tora/Torah“ maße ich mir nicht an denke aber, das ich trotz Ihrer von der Position her zu vermutenden Kompetenz, dieser Einschätzung nicht folgen werde.
Die Bibel als „Quelle“ halte ich soweit für nicht dubios. Dubios halte ich eher das Vorgehen der katholischen Kirche, den Gläubigen nach eigenem Ermessen weitere Quellen vorenthaltenen. Ich sehe es eher so, das man diese Quelle mit der entsprechenden Vorsicht begegnen muss. Da die Bibel und die Tora/Torah von Stamm her aus der selben Quelle stammen, ist Ihre Bewertung dieser „Quelle“ aber schon interessant.
Das Evangelium nach Thomas basiert auf einen sehr frühen schriftlichen Fund, so dass die Quelle meiner Meinung nach nicht dubioser ist, wie andere Schriften des „Neuen Testaments“ (auch wenn das Evangelium nach Thomas nicht in das Neue Testament aufgenommen wurde), dessen erste schriftlichen Belege oft aus späteren Zeitpunkten stammen.
Wie die Quelle „Enfal“ und das Referat des Herrn „Cédric Poyet“ einzustufen sind, weiß ich wirklich nicht. Mir ging es auch nicht so sehr um das Inhaltliche der Seite und des Referates, als darum, eine Quelle für die Muslimische Tradition der Beschneidung zu finden, was nicht so einfach war, das der Koran (offiziell bestätigte Übersetzung) bei mir im Bücherregal dazu nichts hergab.
Nach den journalistischen und (mehr oder minder) religiösen Quellen zu den Quellen von den verschiedensten Organisationen.
Zuerst einmal die WHO (Weltgesundheitsorganisation). Dies ist für mich im Kontext der aus den Quellen verwendeten Materialien wirklich die dubioseste Quelle. Nachdem ruchbar geworden ist, welche Interessen hinter der Panikmache der WHO zur Schweinegrippe stand, zweifel ich inhaltlich dieser Empfehlung zur Beschneidung aus Gesundheitsvorsorge. Ich bin mir nicht sicher, ob hier die WHO nicht evtl. von anderen Interessen beeinflusst ist. Inhaltlich ging es mir aber nur darum fest zu halten, das die WHO auch auf Ihrer eigenen Seite nicht die Säuglings- oder Kindesbeschneidung als Präventionsmaßnahme empfiehlt, wie es vielen Leser suggeriert werden soll. An der inhaltlichen Aussage an sich habe ich, wie schon geschrieben persönlich auch so meine zweifel. Dies hat aber nichts mit dem Artikelthema selbst zu tun.
Bleibt noch die EU mit Ihrer „Charta der Grundrechte der europäischen Union“ und die UN mit Ihrer „UN-Menschenrechtskonvention“.
Gut über die Charta der EU kann man als Funktionär einer jüdischen Gemeinde evtl. anderer Meinung sein. Die Bewertung dieser Quelle halte ich aus dieser Sicht heraus nicht für wesentlich, auch wenn ich diese Ihre Bewertung da ebenfalls nicht teile.
Was mich aber doch verwundert, ist Ihre Bewertung der UN-Menschenrechtskonvention.
So weit es mir bekannt ist definieren sich die jüdischen Gemeinden nicht nur als „Religionsgemeinschaften“ sondern eben auch als eine Volksgemeinschaft, dessen Volk selbst man durch den Staat Israel definieren könnte. Dieser Staat hat nun die UN-Menschenrechtskonvention anerkannt.Sie werden verstehen, dass ich bei den meisten der von mir genutzten Quellen über Ihre Bewertung selbiger schon sehr erstaunt bin.
Gespannt bin ich, ob Sie bei der Hauptquelle meines Nachfolgeartikels „Nur ein Stück Haut? Oder wie tendenzielle Meinung gemacht wird!“ (http://gehirnsturm.info/?p=4443), die Quelle der „UN-Kinderrechtskonvention“ ebenfalls als Dubios einschätzen. Nur schon Vorab als Information, der israelische Staat hat auch diese nicht nur anerkannt, sondern auch per Unterschrift verifiziert.
Das Sie die Bibel und die Tora/Torah als „dubiose Quelle“ ansehen haben sie ja schon geschrieben, da brauche ich jetzt wegen des Nachfolgeartikels ja nicht drauf eingehen.Mein Fazit bleibt, das ich eine religiöse Begründung einer Säuglings-/Kinderbeschneidung nicht sehe. Ich persönlich bin immer noch der Meinung, dass bei Genesis/Moses die Anweisung bezüglich des Bundes nicht religiös begründet wird, sondern mit der „Volkszugehörigkeit“. Auch bin ich eben genau nach lesen des Textes weder der Meinung, dass eine Entfernung der Vorhaut dort verlangt wird, noch das wirklich „Alternativlos“ der 8. Tag nach der „Geburt“ gemeint ist.
Dies sind aber -wie immer- zum Einen „wirre und dümmliche“ persönliche Meinungen und zum Anderen eine Frage der Definition und der Interpretation, die bekanntlich immer von den Interessen desjenigen abhängt, der sie vornimmt.
Für Sie mag es dümmlich und wirr sein, wenn man seine Schlussfolgerungen mit den vielfältigen Gedankengängen, die einen zu dieser Einschätzung gebracht haben aufzeigt. Aber ich werde mit jedem Text, den ich, um mich möglichst breitflächig damit zu befassen, lesen werde weiter mit meinen Gedankengängen beschäftigen, so dümmlich dies auch für einen Religionsfunktionär sind.Mit freundlichen Grüßen
Der Autor
Hinzuweisen ist vielleicht noch als Information der Leser, dass sich das „liberale Judentum“ selbst als eine Gemeinschaft sieht, die sich dynamisch mit der Zeit entwickeln will. Zwar hält die „Union progressiver Juden in Deutschland e.V“ in Ihren Grundsätzen (16) weiterhin auch an einer Beschneidung fest:
16.
Uns eint die Begleitung des jüdischen Lebens durch religiöse Handlungen. Dazu gehören Beschneidung (brit mila) und Namengebung nach der Geburt, Eintritt ins Erwachsenenalter durch Bar-Mitzwa oder Bat-Mitzwa, Hochzeit unter der Chuppa, die Einweihung eines Hauses, schließlich Beerdigung und Trauer, die wir alle mit einem religiösen Ritual in der jüdischen Tradition begehen.
(Quelle: Union progressiver Juden in Deutschland e.V – Grundsätze)
Stellt aber auch direkt an erster Stelle der „Besonderheiten des liberalen Judentums“ (Grundsätze 17-35) fest:
17.
Es gab nie einen Stillstand im Judentum, sondern stets eine nach vorn strebende Bewegung, die manchmal langsamer, manchmal schneller war. Die jüdische Geschichte ist reich an Kontinuität und an Veränderung.
Selbst biblisch fixierte Gesetze wurden in der mündlichen Tradition oder durch Ortsbrauch, Minhag, verändert oder außer Kraft gesetzt. Beispiele hierfür sind die Stellung zu Tieropfer, Kapitalstrafen, Polygamie, Sklaverei, die Leviratsehe oder der Schuldenerlass im siebten Jahr.
Wir erkennen den dynamischen, entwicklungsorientierten Charakter unserer jüdischen Religion an, der bereits in der Tradition angelegt ist. Wir möchten unsere jüdische Tradition religiös leben und dabei die Herausforderungen der Moderne im Kontext unserer Überlieferung reflektieren.
(Quelle: Union progressiver Juden in Deutschland e.V – Grundsätze Hervorhebung durch mich)
Und als kleines Schmakerl noch der Grundsatz Nummer 31:
31.
Wir heißen in unseren Gemeinden alle Jüdinnen und Juden willkommen, unabhängig von ihrem Familienstand oder ihrer sexuellen Orientierung.
(Quelle: Union progressiver Juden in Deutschland e.V – Grundsätze)
Liest man sich nun die Erklärung der „Union progressiver Juden in Deutschland e.V.“ zu dem Urteil durch, so kann man sich über die falschen Behauptungen nur wundern. Schon der Titel „Deutsches Gericht verbietet die religiöse Beschneidung“ ist einfach gesagt eine Lüge. Man will den Leuten (und Glaubensgenossinnen und -genossen?) vorgaukeln, das Gericht hätte Beschneidungen (hier gemeint die Entfernung der Vorhaut) grundsätzlich verboten. In das gleiche Horn bläst der Artikel selbst, der das Verbot der Säuglings-/Kinderbeschneidung mit den Bannverboten der Beschneidung überhaupt in der Frühgeschichte des judentums verglichen:
Seit der Herrschaft des assyrisch-griechischen Königs Antiochius Epiphanes um 165 v.d.Z. haben zahlreiche Regierungen den Bann über die Beschneidung ausgesprochen im Versuch, die jüdische Religionspraxis auszulöschen oder zu delegitimieren.
(Quelle: Union progressiver Juden in Deutschland e.V –
Deutsches Gericht verbietet die religiöse Beschneidung)
Über den „dubiosen“ (und scheinbar üblichen) Nazivergleich lasse ich mich jetzt nicht aus!
Ich hoffe nur, dass ich die Grundsätze des „liberalen Judentums“ und der Erklärung nicht aus einer „dubiosen Quelle“ entnommen habe. 😉 (Entschuldigung, das musste jetzt sein)
Und zum Schluss noch eine kleine Strophe eines Liedes von Arik Brauer:
Ich frag‘, wo nimmt man Weisheit her? Der Rabbi sagt, da muß man
Heringsschwänze essen, er verkauft mir gern ein Dutzend.
Ich kauf‘ die Schwänz‘, ich eß‘ sie auf und dann tu‘ ich bemerken:
Das war kein schlechtes G’schäft für’n Rabbi – das Mittel tut schon wirken!
(Quelle: Arik Brauer, Strophe aus dem Lied „Dschiribim – Dschiribam“ auf dem Album „Arik Brauer“ [1971 – Polydor])
Links:
– Gehirnsturm: Ein Urteil des Kölner Landgericht und eine Horde aufgeregter Religionsfunktionäre
– Gehirnsturm: Nur ein Stück Haut? Oder wie tendenzielle Meinung gemacht wird!
– Union progressiver Juden in Deutschland e.V.: Deutsches Gericht verbietet die religiöse Beschneidung
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Beschneidungsartikel – Offener Brief in eigener Sache
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